"Geh aus mein Herz und suche Freud!"

Geh aus mein Herz und suche Freud
In dieser lieben Sommerzeit
An deines Gottesgaben
Schau an der schöne Gärtenzier
Und siehe wie sie mir und dir
Sich ausgeschmücket haben
Sich ausgeschmücket haben

 

 

„Sie haben uns hoffentlich einen spritzigen Riesling mitgebracht“, spricht uns gleich bei unserer Ankunft in Lübben ein Spreewälder an und zeigt dabei lächelnd auf unser KfZ-Kennzeichen. Das freudige Erkennen unseres Nummernschildes haben wir oft erlebt. In Schweden, im Baltikum, ja sogar weit im Norden auf den Lofoten, wurde es schnell identifiziert als die Region mit dem bekannt guten Tropfen. Das gefällt mir: Aus einer Gegend zu kommen, die international so positiv assoziiert wird. Andere haben es da schwerer: Sie werden als große Gauner (GG) betitelt, die ohne Führerschein (OF) unterwegs und im übrigen das Allerletzte (ZZ) sind.

 

Wir haben die Rehaklinik im Spreewald gewählt, weil wir die Gegend noch nicht kennen. Während Peter dort wieder fit gemacht wird, will ich mit Kara relaxen. Leicht war es nicht, eine freie Ferienwohnung in Kliniknähe zu bekommen, in der auch Hunde willkommen sind. Aber nach langer Recherche hat es doch noch geklappt, und nun stehen wir vor dem Haus in dem weitläufigen Wohngebiet, das früher wohl mal eine Schrebergartenanlage war. Wir suchen noch nach dem Geheimkästchen im Eingangs-bereich, in dem der Schlüssel liegen soll, da öffnet die Wirtin auch schon die Tür und heißt uns willkommen. Es gibt nichts zu meckern: Die Wohnung ist nett, zweckmäßig eingerichtet und sauber. Wir fühlen uns also nett empfangen und sind zufrieden.

 

 

Auch sonst begegnen uns die Leute hier aufgeschlossen und freundlich. „Sie sind ein Schatz“, freut sich eine Kellnerin über das Trinkgeld. „Lassen Sie es sich schmecken“, wünscht mir die Verkäuferin in der Metzgerei. „Dann frühstücken Sie mal ordentlich“, sagt die Angestellte in der Bäckerei. In heimischen Gefilden sind wir ja schon zufrieden mit dem stereotypen „Schönen Tag noch!“, als Maximum an Freundlichkeit. Ein kleiner Scherz, eine Bemerkung über den Hund oder eine Frage - man kommt hier leicht mit den Menschen ins Gespräch. Allerdings landen viele Unterhaltungen trotz des liebenswürdigen und fröhlichen Einstiegs schnell in einer resignierten Schimpftirade über die korrupten Politiker, die Kosten für die Ausländer und die Zumutungen der Regierung. „Alles, was wir uns in langen Jahren mühsam erarbeitet haben, geht jetzt in sinnlose Rüstung oder ins Ausland“, beklagt eine rüstige Siebzigjährige, die seit ihrer Pensionierung vor zehn Jahren noch regelmäßig drei Tage wöchentlich in einer befreundeten Physio-Praxis jobbt. Ihr Massagegriff ist zupackend und ihr Umgang mit den Patienten burschikos-herzlich. Dass ich von der Behandlung auch schon mal blaue Flecken kriege, erklärt sie mit meinen verklebten Faszien, an die sie halt entsprechend hart rangehen müsse. Da mir die Therapie hilft, sind mir die Hämatome egal. Irgendwie wirkt die Masseurin sympathisch lebendig mit ihrer schnodderigen Art, ihrem langen, geflochtenen Zopf und ihrer durchsichtigen hellen Hose, durch die der dunkle Stringtanga zu erkennen ist.

 

Bei meinen Spaziergängen mit Kara durch das Wohngebiet fallen mir zwei Dinge auf: Die gepflegten, gut ausgestatteten Häuser und die wunderbaren Gärten.

 

 

Obwohl auch hier eindeutig der Trend zu reinen Ziergärten mit stereotypen Pflanzen wie Konifere und Kirschlorbeer zu erkennen ist, schwelgen die meisten Gärten doch in Farben und Düften. Auf den riesigen Grundstücken wachsen noch Obstbäume und -sträucher. „Wie früher bei uns auch“, schwärme ich und denke an die süßen Kirschen und Mirabellen in Omas Garten. Obst und Gemüse brauche ich während meines Aufenthaltes nicht zu kaufen, ich bekomme es von der Wirtin oder den Nachbarn geschenkt. Pflaumen, Trauben, Äpfel, Tomaten, Gurken und Zucchini. Bürgersteige gibt es hier nicht, nur Rasenflächen vor den Grundstücken. Die werden, wie auch die Gärten selbst, akribisch gepflegt. Da wird gemäht, gekehrt, Unkraut aus den Pflasteritzen gekratzt, geschnitten, gewässert und hübsch dekoriert.

 

 

Vor oder auf den Grundstücken alte, dickstämmige Eichen, Pappeln oder Erlen, ja, sogar mächtige Trauerweiden. Es ist ein Traum! Ich bin noch in meine Betrachtungen vertieft als Kara plötzlich an der Leine in Richtung Kanal zerrt und bellt. Ich folge ihrem Blick und entdecke zwei possierliche Bisamratten durchs Wasser gleiten. Später sehe ich noch eine über die Straße laufen, ganz in der Nähe meines Feriendomizils. Da finde ich sie dann gar nicht mehr so possierlich.

 

Einige der alten Häuser mit einem einheitlich grauen, rauen Putz stehen noch.

 

Sozialistische Kunst am Zaun!

 

 

Oder grüne Mauern. Akkurat, abweisend!

 

 

 

Die meisten Gebäude im Wohngebiet sind groß, modern und aufwändig ausgestattet. Kein Haus gleicht dem anderen, jedes strahlt Individualität aus. Aus der Einfahrt eines villenartigen Hauses mit Walmdach, Sprossenfenstern und – natürlich – geschmackvoll angelegtem, parkähnlichen Garten, fährt gerade ein Kleinwagen heraus. Am Tor hält er an, und eine ältere, schlanke Dame steigt aus, um in den Briefkasten zu schauen. „Sie haben ein wunderschönes Haus und einen richtigen Park“, rufe ich ihr zu. „Dankeschön. Ich bin auch zufrieden. Meine ganze Familie wohnt hier oder gleich in der Nebenstraße.“ Sie zeigt hinter sich: „Ich wohne in dem Haus dort hinten, das ist schon 40 Jahre alt. Das Vordere haben wir vor 20 Jahren gebaut. Bei dem großen Grundstück wird es wegen der neuen Grundsteuer jetzt aber teuer. Da hätte man für den Osten eine Sonderregelung schaffen müssen.“ Im Laufe des Gesprächs erzählt sie, dass sie schon 88 Jahre alt ist und zweimal wöchentlich zur Wassergymnastik geht. „Man muss was tun“, sagt sie lachend. Auffallend ist, dass fast alle Leute mit denen ich spreche, betonen, wie glücklich sie darüber sind, ihre ganze Familie in der Nähe zu haben.

 

Zu fast jedem Haus gehört ein Hund.

 

Besonders genieße ich die nächtlichen Spaziergänge durch das schlafende Viertel. Unsere alte Lady Kara muss jetzt ja immer noch mal spät raus. Stille. Nein, nicht ganz. Grillen zirpen und eine Katze miaut. Der Wind schüttelt Eicheln herab, die prasselnd auf dem Asphalt landen. Mit einem dumpfen Geräusch fällt ein Apfel vom Baum ins Gras. Ein Igel kreuzt unseren Weg. Nachtaktiv wie wir. Er hat es eilig. Wir nicht.

 

In den ersten Tagen erkunde ich die nähere Umgebung mit dem Fahrrad. Schon nach kurzer Zeit kenne ich den schnellsten Weg ins Zentrum und zur Rehaklinik und finde lohnenswerte Ziele fürs Wochenende. Außerdem habe ich Supermärkte, Bäcker und Metzgereien getestet und weiß, dass die Riesenbratwurst beim Hähnchenkönig lecker schmeckt. Ich mag diese ersten Entdeckertage in einer neuen Umgebung, auch wenn es meist ja nur um Banalitäten geht.

 

Mit ihren rund 14.000 Einwohnern ist Lübben die Kreisstadt der Region Dahme-Spreewald, Der Landkreis liegt zwischen Berlin und der Niederlausitz und hat sich zu einer Top-Adresse in Ostdeutschland entwickelt. Grund hierfür sei laut seiner Homepage die wirtschaftliche Sogwirkung des im Landkreis liegenden Flughafens Berlin Brandenburg. Die Attraktivität des Standortes Dahme-Spreewald werde außerdem begründet durch die zentrale Lage im Europäischen Binnenmarkt, die Nähe zur Hauptstadt Berlin, die optimale regionale und überregionale Verkehrs-anbindung sowie durch attraktive Gewerbeflächen und moderne Infrastruktur. Die Arbeitslosenquote im Kreis liegt leicht unter der Quote des Rheingau-Taunus-Kreises.

 

Die Innenstadt von Lübben selbst wirkt etwas nüchtern. Man weiß erst gar nicht, woran es liegt. Der große Marktplatz, die Häuser mit kleinen Geschäften und Restaurants – alles ist recht hübsch. Später erfahre ich, dass Lübben in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges zu 80 % zerstört wurde und damit den einstigen romantischen Kleinstadtcharakter verlor. Fast alle heutigen Häuser rund um den Marktplatz und auch der Marktplatz selbst sind neu. Manche Gebäude wurden erst vor wenigen Jahren fertiggestellt.

 

Immer montags und donnerstags kann man mit der ersten und einzigen Türmerin Brandenburgs und Berlins den Turm der Paul-Gerhardt-Kirche besteigen.

 

Ich wage den Aufstieg obwohl ich Bedenken habe, ob ich nach meiner langen sportlichen Abstinenz die über 100 Stufen schaffe. Wie sich herausstellt, sind sie aber kein Problem, weil es in mehreren Abschnitten nach oben geht. Das Gotteshaus ist benannt nach dem evangelisch-lutherischen Theologen und bedeutenden Kirchenlieddichter Paul Gerhardt, der 1669 als Pfarrer nach Lübben kam. Viele werden seine Lieder kennen, wie zum Beispiel „Geh aus mein Herz und suche Freud“.

 

Auch ein Schloss gibt es in Lübben. Das Gebäude mit dem eindrucksvollen Renaissancegiebel und dem historischen Wohn- und Wehrturm beherbergt ein Geschichtsmuseum, das durch multimediale und audiovisuelle Inszenierungen Stadt- und Regionalgeschichte spielerisch erlebbar macht. Ein Gang durch die Räume der Ausstellung gleicht einer Zeitreise durch die Geschichte der einstigen Regierungsstadt Lübben. 

 

Nach der Wende 1989 wurden viele baulichen Aktivitäten angestoßen. Aus einer einstigen Brachfläche entstand auch die Schlossinsel völlig neu. Das attraktive Freizeitgelände mit Kahnhafen, Grünanlagen, Wanderwegen, neuen Kanälen, Klangspielen und Wasserspielplätzen ist heute das touristische Highlight der Stadt. Die Umgestaltung kostete mehr als 10 Millionen DM.

 

 

Auch wenn am Kahnhafen und rund um den Imbiss „Gurkenpaule“ während der Hauptsaison Jahrmarktrummel herrscht, ist die idyllisch angelegte Infrastruktur doch beeindruckend. Bei einer Fassbrause sitzen wir am Wasser und schauen dem Treiben zu. Schade nur, dass der Stand um 18 Uhr schließt. Die vielen Restaurants der Stadt sind mittlerweile natürlich auch alle voll besetzt – ohne Reservierung läuft hier gar nichts. Außerdem wird erwartet, dass man dort auch isst. „Es gibt ja noch nicht mal einen Eissalon, bei dem man nur mal was trinken könnte“, maule ich. Also nix mit Aperol Sprizz!

 

Lübben liegt im UNESCO-Biosphärenreservat Spreewald inmitten von Wiesen, Feldern und Wald. Eine einzigartige Naturlandschaft. Fließe, Bäche, Teiche, Seen, Flüsse, Feuchtwiesen und Moore wohin man schaut. Ein Paradies für Radler, Paddler und alle Naturverbundenen. Fließe nennt man die Kanäle und Wasserwege des Spreewaldes. Insgesamt 1500 km sollen es sein, 300 km davon sind mit dem Kahn oder Paddelboot befahrbar. Der Sage nach entstand dieses Wasserlabyrinth durch eine Unachtsamkeit des Teufels. Beim Pflügen des Spreetals gingen ihm die Ochsen durch, die bei ihrer wilden Flucht die Fließe schufen. Tatsächlich sind diese vor rund 12.000 Jahren in der letzten Eiszeit entstanden. Die Spree teilte sich in ein weitläufiges feingliedriges Fließgewässernetz auf, und so entstand ein großes Binnendelta mit ausgedehnten Feuchtwiesen.

 

 

Haupttransportmittel waren früher die typischen Spreewaldkähne, auf denen Ernteerzeugnisse, Heu, Baumaterial und Brennholz befördert wurden. Das flache Gleitboot ist heute meist nicht mehr aus Holz, sondern aus Stahlblech oder Aluminium gefertigt. Mit der Ausbreitung des Straßennetzes verlor der Spreewaldkahn weitgehend seine Bedeutung. Attraktiv ist er aber immer noch für Touristen. Auf gepolsterten Bänken, mit Getränkeservice und wenn nötig mit Decken ausgestattet, können sie zwischen diversen Touren wählen.

 

 

Da wir nur am Wochenende genügend Zeit für gemeinsame Unternehmungen haben, müssen wir uns zwischen Kahnfahren, Paddeln oder Radeln entscheiden. Wir bevorzugen die Gegend mit dem Fahrrad zu erkunden. Dabei nehmen wir uns jeweils ein anderes Stück des sehr abwechslungsreichen, 260 km langen Gurkenradweges vor. Auch auf den Besuch des Freizeitsparks „Tropical Islands“ verzichten wir. Die freitragende Halle wurde eigentlich als Werft für Zeppeline gebaut. Nun ist es auf 66.000 qm die größte tropische Urlaubswelt Europas.

 

Auf dem Pedelec geht es also komfortabel durch Wälder, Felder und Wiesen, auf Dämmen entlang und durch die wunderschöne Auenlandschaft.

 

Auf den Seen haben sich unzählige Schwäne, Gänse und Enten niedergelassen. Die jungen Schwäne sind schon genauso groß wie ihre Eltern, haben aber noch ihr graues Federkleid. Nur das Rauschen der Blätter, das Schnattern der Gänse und das Knacken der Bucheckern und Eicheln unter unseren Reifen ist zu hören.

 

Aus dem Bruchwald riecht es modrig. Unter Bruchwald versteht man einen permanent nassern, sumpfigen Wald. Ein Dickicht an Pflanzen wuchert darin. Um viele Bäume rankt Hopfen mit seinen hellgrünen Blütentrauben.

 

 

Im Kanal neben dem Fahrradweg gleitet leise ein Boot vorbei, begleitet von einer einsamen Ente, die wohl einen leckeren Happen von den Fahrgästen erhofft. Mit dem langen, sogenannten Rudel stakt die Fährfrau den Kahn sacht durch das braune Wasser. Sie trägt die traditionelle sorbische Tracht, Die Sorben, einst Nachfahren slawischer Einwanderer, haben bis in die heutige Zeit ihre eigene Sprache, Kultur und Identität bewahrt. Zweisprachige Beschilderungen von Orten, Bahnhöfen und Straßen sind daher in der Lausitz und im Spreewald üblich.

 

 

Hin und wieder sieht man Strohballen, an denen aktivistische Plakate befestigt sind. Auf ihnen wird zum Beispiel gegen die Zerstörung der Auenwälder oder gegen die „Moormafia“ Stellung bezogen. An einer Uferböschung warnt  ein Schild: Don´t feed the alligator! Vermutlich ein humorvoller Hinweis auf die im Wasser liegenden, abgestorbenen Bäume.

 

Manchmal geht es aber auch laut zu auf dem Wasser. Nämlich dann, wenn eine Gruppe junger Männer unterwegs ist, die auch hier auf das Dröhnen der harten Techno-Beats nicht verzichten kann. Bei einer kurzen Pause entdecke ich ganz nah auf einer Wiese ein Reh. Unbeweglich steht es da. Schaut mich an. Intensiv. Sekundenlang. Ein seltsames Gefühl steigt in mir auf. Ein Gefühl des Erkennens und gleichzeitig das einer unüberbrückbaren Distanz.

 

Einer unserer Ausflüge führt uns nach Lübbenau, in den wohl hübschesten Ort im Spreewald. Eine malerische Altstadt, Restaurants, Biergärten und Cafés. Entsprechend touristisch ist es hier natürlich, auch jetzt noch im September. Wir mögen uns gar nicht den Trubel im Juli vorstellen. Ruhig geht es dagegen im Café des Schlosshotels zu, das umgeben ist von einem bezaubernden Park und den Wasserläufen der Spree. Es stammt auf dem 19. Jahrhundert und ist wieder im ursprünglichen Familienbesitz des Grafen von Lynar.

 

Am Hafen warten die Kähne und Marktstände auf ihre Kunden. Verkauft werden vor allem Gurken, Meerrettich, Leinöl und Senf. Spreewälder Gurken und Meerrettich tragen das Gütesiegel der Europäischen Union als geschützte geografische Angabe. "Was macht uns stark? Pellkartoffel mit Leinöl und Quark“ steht auf vielen Speisekarten. Wir können uns für den intensiven Geschmack des Leinöls nicht so recht begeistern. Für die Gurken dagegen umso mehr. Aus großen Fässern werden sie in verschiedenen Geschmacksrichtungen auf die Hand verkauft. Wir futtern uns durch alle Varianten hindurch. Ein Schmalzbrot dazu - köstlich.