Schmerzende Knie- und Fußgelenke, Beginn einer Osteoporose, Verspannungen im Schulter-Nackenbereich und chronische Rückenschmerzen: Das alles kostet Lebensqualität und zehrt an den Kräften. Also höchste Zeit für eine Reha. Die Klinik in Göhren, ganz im Osten auf Rügen, scheint bestens geeignet für die Behandlung von Erkrankungen des Bewegungsapparates. Für mich als Allergiker verspricht das milde Reizklima an der Ostsee einen zusätzlichen gesundheitlichen Gewinn. Die Brandungsaerosole sollen laut Prospekt besonders gut für die Atemwege sein. „Endlich liest man mal etwas von gesunden Aerosolen“, denke ich zynisch beim Durchblättern der Broschüre.
„Die Natur ist die beste Apotheke“, sagte schon Sebastian Kneipp. Daran erinnere ich mich jetzt bei der Anfahrt über die Insel. Duftende Alleen, weite Wiesen voller Mohn- und Kornblumen und liebliche Hügel nehmen mich sofort für Rügen ein und lassen mich hoffen: Hier werde ich neue Kraft tanken können. Der Empfang in der Klinik ist herzlich, die ärztliche Untersuchung und Information gründlich, das Ambiente hell und modern und das Zimmer gemütlich. Das alles ist ja schon ein sehr positiver Anfang, aber das Highlight dieses ersten Tages offenbart sich nach einem kurzen Spaziergang über die Düne hinter der Klinik. Unvermittelt liegt die Ostsee vor mir. Glatt und ruhig, silbrig glänzend, flüsternd. Segelboote setzen kecke, weiße Akzente. Auf den sanften Wellen schaukeln Schwäne. Mit ausgebreiteten Flügeln steht ein Kormoran auf einem Findling und lässt sich in der Brise trocknen. Der Strand, weiß und feinsandig. Menschenleer. Vom Wald hinter der Düne ruft ein Kuckuck.
Ich lasse mich im warmen Sand nieder und kann mein Glück nicht fassen. „Bisher ging doch immer irgendetwas schief“, denke ich. „Wahrscheinlich sind die Anwendungen schlecht und die Therapeuten unfreundlich“. Dem Glück gegenüber sind wir Menschen ja so misstrauisch. Aber es gibt nichts zu meckern. Am nächsten Tag nicht und auch nicht die darauf folgenden 27 Tage. Die auf meine Beschwerden abgestimmte Bewegungstherapie macht Spaß (ich spiele nach 40 Jahren das erste Mal wieder Federball!) und scheint erfolgreich zu sein, denn mir tun nach ein paar Tagen alle Knochen weh. „Ein gutes Zeichen dafür, dass die Maßnahmen helfen“, meint der Oberarzt lakonisch und grinst. Überhaupt verfügt er über eine gute Portion Humor, den er bei seinen sehr informativen, kurzweiligen und engagierten Vorträgen fast kabarettistisch einsetzt. Ich nenne ihn daher bald den „Hirschhausen von Göhren“. Aber er soll recht behalten. Schon ab der zweiten Woche verringern sich meine Schmerzen und ich spüre dank der Mischung aus Information, Bewegung und Entspannung eine deutliche Verbesserung.
Auch die Stimmung unter den Patienten mit denen ich Kontakt habe, ist gut. Vielleicht liegt es daran, dass jeder in gewisser Weise einen Leidensweg hinter sich hat. Die Widrigkeiten des Lebens zu kennen, schafft Verständnis und macht demütig. Bestenfalls.
In meinen Anwendungspausen und am Wochenende erkunde ich die nähere Umgebung mit dem Fahrrad. Gut, dass ich mein E-Bike mitgebracht habe, denn es geht die Hügel rauf und runter. Klar, ich bin ja auch in Göhren, was sich aus dem slawischen „Gorna“, also „bergiges Dorf“ ableitet. Ich genieße die Fahrt durch verträumte Dörfer und durch die abwechslungsreiche Heide- und Boddenlandschaft mit ihren Buchten und Seen. Weite Felder und Wiesen. Neben dem Tourismus prägen Landwirtschaft und Fischerei die Region. Die ins Meer ragenden Landzungen heißen hier Hövt. Immer wieder fantastische Panoramen auf die See oder den Greifswalder Bodden. An den steilen Kliffen nagt das Meer. Das Werden und Vergehen der Natur wird sicht- und spürbar. Mischwälder aus uralten Eichen, Buchen, Kiefern und Akazien. Dazwischen leuchtende Birkengruppen. Je näher die Bäume an der See wachsen, umso knorriger und krummer sind sie. Am Boden ein Pflanzendickicht. Was umfällt, bleibt liegen.
Die Ortschaft Göhren darf sich seit 1878 Ostseebad nennen. Damals wie heute ist sie vom Tourismus geprägt. Sie hat ja auch einiges zu bieten. Die gepflegte Promenade und die vielen Cafés und Restaurants. Den feinsandigen Nordstrand mit guter Infrastruktur und den kilometerlangen, naturbelassenen Südstrand. Getrennt werden die beiden durch das waldreiche Nordperd. Zwar ist in Göhren die Bäderarchitektur nicht so eindrucksvoll wie zum Beispiel in Binz, aber man entdeckt auch hier das eine oder andere Gebäude, das von prunkvollen Zeiten erzählt. Mein Lieblingsplatz ist die Anhöhe an der evangelischen Kirche mit der wundervollen Aussicht über die Halbinsel, das Naturschutzgebiet Mönchgut. Ungewöhnlich ist die Doppelturmfassade der Backsteinkirche. Im Innern fallen vor allem die beiden Altarfiguren Maria und Johannes auf, denn sie tragen die Mönchguter Tracht. Sehenswert ist auch die St. Katharinen-Kirche in Middelhagen. Und wenn man schon mal dort ist, kann man im ältesten Gasthaus Rügens „Zur Linde“ gleich einen Kaffee aus frisch gerösteten Bohnen oder ein frisch gebrautes Bier trinken. Ein kulinarische Muss auf der Insel sind natürlich die Fischbrötchen. Die gibt es an zahlreichen Imbissständen, immer frisch, immer lecker. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe alle gekostet: Bismarck- und Brathering, Matjes und Lachs.
Balsam für die Seele sind die Spaziergänge am ausgedehnten Strand. Besonders am Südstrand bleibt die Besucherzahl überschaubar. Vielen ist der Fußweg wohl einfach zu weit und mühsam. Offensichtlich werden die Parkmöglichkeiten bewusst gering gehalten. Kinder buddeln im Sand oder bauen Burgen, Hunde jagen den Stöckchen hinterher. Ob bekleidet oder Nackedei – es ist jeder willkommen und wird toleriert. Das war nicht immer so, wie ich erfahre. Vor der Wende gab es hier ein Erholungsheim der Stasi-Behörde. Weite Teile des Strandes waren gesperrt. Zerfallene Gebäude erinnern noch an diese Zeit. Fast täglich hört man die Sirene der Seenotrettung. Feuerwehr, Rettungsboote und Hubschrauber sind oft im Einsatz. Immer wieder überschätzen Touristen ihre Kondition und unterschätzen die Ostsee. In jeder Saison kommt es zu Todesfällen.
Das nach Binz zweitgrößte Ostseebad ist Sellin. Wahrzeichen und einzigartiges Fotomotiv ist die nach historischem Vorbild neu errichtete und 1998 wieder eröffnete, fast 400 m lange Seebrücke. Das außergewöhnliche Gebäude ist so harmonisch und schön, dass ich meinen Blick kaum lösen kann. Nach Kaffee und Kuchen auf der Terrasse geht es wieder die „Himmelsleiter“ hinauf. 87 Stufen! Aber die schaffe ich nach drei Wochen Kliniktraining nun locker. Verlockend ist eine „Rundtour auf dem Wasser und mit Dampf“, also mit Schiff und „Rasendem Roland“, der dampflokbetriebenen Schmalspureisenbahn. Sein Pfeifen, es ist bis spät am Abend zu hören, werde ich wohl neben dem Ruf des Kuckucks immer mit Rügen verbinden.
Zufrieden kehre ich am Abend von meinen Ausflügen zurück in die Klinik. Ich lasse mich die Straße hinunter rollen und werde im Schein der Straßenlaternen immer wieder vom meinem eigenen Schatten überholt. Hase und Igel sagen sich hier nicht gerade gute Nacht. Gesehen habe ich sie aber beide. Berührend ist die Begegnung mit einem Reh, das still am Wegrand steht und mir ruhig in die Augen blickt. Oft wabert Nebel in der Abendkühle über den Wiesen. Eine riesige Rinderherde scheint darin zu schweben. In der Ferne quaken Frösche. Eine märchenhafte, fast mystische Atmosphäre. Auf dem Personalparkplatz der Klinik fällt mir bei der Rückkehr ein kleiner Blumenstrauß an der Windschutzscheibe eines Kleinwagens auf. Liebevoll gebunden, die Stängel vorsorglich mit feuchtem Papier umwickelt, klemmt er hinter dem Scheibenwischer. Was es damit wohl auf sich hat? Ein heimlicher Verehrer? Oder die kleine Geste eines dankbaren Patienten? Wollte ich dem Beispiel folgen, müsste ich sehr viele Blumensträuße pflücken.